Eschershausen (red). Mit konzentriertem Blick beobachtet eine Schülerin des Drachenflug-Projektes die kleine Luftblase in der Wasserwaage, während ein Mitschüler den Metallbock einstellt, um das darauf liegende Rohr genau auszurichten. Die Bohrung, die die Jugendlichen gleich in das Aluminiumrohr einbringen werden, muss ganz genau sein, denn dieses Rohr wird kein Fahnenmast oder Fußballtor, bei dem eine kleinere Ungenauigkeit verschmerzt werden könnte.
Nein – dieses Rohr wird das Flügelrohr eines Hängegleiters (besser bekannt als Drachen), mit dem die Schülerinnen und Schüler der Haupt- und Realschule Eschershausen im kommenden Frühjahr tatsächlich das Fliegen erlernen wollen. Alle Teile müssen deshalb genau zusammenpassen, damit die Stabilität und die Aerodynamik des Fluggerätes gewährleistet sind. Als Vorlage dient ein Drachen, der bereits in den siebziger Jahren entwickelt wurde und bis heute als Schulungsgerät für die ersten Flüge in Flugschulen eingesetzt wird.
Den Drachen fertigen die Schülerinnen und Schüler im Rahmen des „Mach Was!“-Wettbewerbes der Firma Würth an, bei dem die HRS Eschershausen nun schon zum dritten Mal teilnimmt. In den vergangenen zwei Jahren hat es leider nicht für die Endrunde gereicht, doch in diesem Jahr stehen die Chancen sehr gut, da sind sich alle Beteiligten sicher. So auch Frau Swiridow von der Handwerkskammer Hildesheim, die die teilnehmenden Schulen betreut und anlässlich des Wettbewerbsstarts extra nach Stadtoldendorf gekommen ist, um den Schülerinnen und Schülern bei der Arbeit am Fluggerät über die Schulter zu schauen. Sie erläutert, wie wertvoll die Kooperation von Handwerksbetrieben und Schulen ist, denn dieser Rahmen ermöglicht den Schülerinnen und Schülern nicht nur einen vertieften Einblick in die Welt des Handwerks, er bietet ihnen darüber hinaus die seltene Gelegenheit, dass sie ihre außergewöhnlichen Projekte mit möglichst viel Eigenleistung in die Tat umsetzen können.
Und außergewöhnlich ist das Vorhaben der Jugendlichen von der HRS Eschershausen auf jeden Fall. Seit mehr als 25 Jahren wurde kein Drachen dieses Baumusters mehr gefertigt, da der Drachenflugsport insgesamt von immer weniger Menschen erlernt und ausgeübt wird. Das Gleitschirmfliegen hat das Drachenfliegen allmählich abgelöst, doch dies ist kein Grund für Boris Maretzke, den Lehrer des Drachenflug-Projektes, das Drachenfliegen aufzugeben. „Am Gleitschirm ist alles besser – außer das Fliegen“, sagt der begeisterte Pädagoge und leidenschaftliche Drachenflieger. „Das Drachenfliegen kommt dem Vogelflug am nächsten und darüber hinaus könnten wir einen Gleitschirm im Rahmen des Unterrichts niemals selber bauen, doch gerade das ist das Wichtigste am Drachenflug-Projekt.“ Denn die Selbstwirksamkeit steht für Maretzke im Vordergrund. Die Jugendlichen sollen erfahren, dass sie im Stande sind, mit dem richtigen Werkzeug und etwas Geschick ein Flugzeug selbst zu bauen und erhalten hierbei wertvolle Unterstützung von der Firma Matyssek in Stadtoldendorf und der DSB Deutsche Schlauchboot in Eschershausen.
Stephan Dörries, der Ausbildungsleiter der Firma Matyssek, freut sich sehr über das engagierte Projekt und die Begeisterung, mit der die Jugendlichen den Drachen anfertigen. Doch die Firma stellt nicht nur die Ausbildungswerkstatt zur Verfügung, alle Blech- und Kunststoffteile, die neben den Rohren zur Fertigstellung des Hängegleiters fehlen, werden mit Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen mit größter Genauigkeit gefertigt. „Das hätten wir in unserem Werkraum niemals schaffen können!“, bedankt sich Maretzke bei der Firma Matyssek.
Nach den Weihnachtsferien geht es dann weiter zur DSB Deutsche Schlauchboot, die mit den Jugendlichen das Segel nähen werden. Im Vorfeld hat Ulf Gemeinhardt bereits die Teile eines alten Drachensegels genau vermessen und digitalisieren lassen. So wird auch hier mit höchster Präzision aus bestmöglichen Materialien das Segel gefertigt werden, damit die Schülerinnen und Schüler voller Vertrauen in ihr Fluggerät die ersten Flüge unternehmen können.
Natürlich wird der Drachen nach der Fertigstellung von der zuständigen Stelle des Bundesministeriums für Verkehr auf seine Flugtauglichkeit überprüft, doch auch diese Überprüfung sollte bei der professionellen Unterstützung der beiden Betriebe reine Formsache sein.
Und bei einem Drachen soll es nicht bleiben: Die 1.000 Euro, die die Firma Würth den Nachwuchsfliegern zur Verfügung gestellt hat, reichen knapp für den ersten Hängegleiter, doch mindestens zwei weitere sollen in den nächsten beiden Jahren folgen. Dank einer großzügigen Spende von Christian Dörries von der Firma Dörries Baustoffe werden mit Unterstützung der oben genannten Firmen auch die nächsten zwei Hängegleiter gefertigt werden können, sodass bald wieder viele junge Menschen aus eigener Kraft das Fliegen an den Hängen des Ith erlernen können. So wie vor knapp 100 Jahren, als die Fliegerei auf dem Ith mit dem selbstgebauten Segelflieger zweier Landwirte aus Capellenhagen ihren Anfang nahm. Dieser flog übrigens genau auf der Wiese, die die Drachenflieger heute als Übungshang nutzen dürfen, und Boris Maretzke freut sich schon sehr darauf, von eben dieser Wiese zum Erstflug mit dem selbstgebauten Drachen zu starten.

Fotos: Haupt- und Realschule Eschershausen